Flüchtlinge in der Literatur

/ Literatur, Veröffentlichungen

Veröffentlicht 2014 im Modulator der Programmzeitung des Freien Radio für Stuttgart

Erzählungen über Flucht und Vertreibung gibt es seit dem Menschen Geschichten weitererzählen und aufschreiben. Die ältesten Dokumente menschlicher Kultur handeln davon. Immer wieder hat die Literatur auch auf aktuelle Ereignisse reagiert. In den letzten zwei Jahren haben sich wieder Schriftsteller  der Situation von Flüchtlingen zugewandt. Im Folgenden möchte ich einige der Romane vorstellen.

„Havarie“  von Merle Kröger

Das Buch „Havarie“ wird vom Argument Verlag unter der Bezeichnung Krimi vertrieben. Diese Bezeichnung wird dem Roman aber nicht gerecht. Merle Kröger hat viel mehr einen Roman über das tausendfache Sterben von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer geschrieben. Die Geschichte erzählt von dem Kreuzfahrtschiff „Spirit of Europe“, das mit 5000 Touristen vor der Küste Spaniens kreuzt. Im dichten Nebel kommt es fast zum Zusammenstoß mit einem irischen Frachtschiff. Kurze Zeit später rammt das Kreuzfahrtschiff fast ein Schlauchboot mit Flüchtlingen. Für die Passagiere ist es ein Erlebnis. Sie machen Bilder und freuen sich darüber, dass ihnen einige der Geflüchteten zuwinken. „Wie eine Herde drängen sie sich nach vorn, während die erste Reihe sich sattgesehen hat und den Rückzug antritt. Die Spanne ist kurz. Vielleicht dreißig Sekunden starren sie durchschnittlich auf das Schlauchboot da draußen. Delfine halten gewöhnlich länger, aber nur in großen Gruppen.“ (S.54 f.) Auf die Idee, dass die verzweifelten Menschen auf dem Schlauchboot Hilfe brauchen kommen sie nicht. Der Kapitän hat strikte Anweisung von der Reederei keine Flüchtlinge aufzunehmen. Trotzdem muss er nach internationalem Seerecht die spanische Seerettung alarmieren.  Der irische Frachter ist zur selben Zeit vor Ort. Als der Kapitän im Meer einen Menschen treiben sieht will er zuerst das Schiff anhalten und helfen. Er entscheidet sich aber dagegen, weil es zu teuer ist das Schiff anzuhalten.

Das Schlauchboot wird von Karim gesteuert. Es ist bereits seine fünfte Fahrt mit Menschen auf der Flucht. Damit ist er einer der erfahrenen Schleuser. Zweimal hat er es bis nach Spanien geschafft, zweimal ist er von der Küstenwache zurück ans Land gebracht worden und einmal hatte sein Schiff einen Motorschaden und wurde von der spanischen Seenotrettung nach Spanien geschleppt. Allerdings kamen sie dort nicht in die ersehnte Freiheit, sondern in den Abschiebeknast nach Murcia. Trotz dieser Erfahrung wird er immer wieder versuchen Flüchtlinge nach Europa zu bringen.  „Karim hat einen Vorteil. Wir sind die Unsichtbaren, les invisibles. Mit all eurer Technik, eurem Radar, euren Schnellbooten könnt ihr uns nicht aufspüren. Wir verstecken uns zwischen den Wellen“. (S. 185)

Neben der Geschichte der Havarie erzählt Merle Kröger noch eine Vielzahl anderer Geschichten, die mit dem Mittelmeer zu tun haben. Immer wieder nimmt sie beispielsweise Bezug auf den spanischen Bürgerkrieg.

 Nach dem Plan des strategischen Kopfes der Putschisten General Mola sollte der Aufstand am Morgen des 18. Juli in Spanisch Marokko beginnen. Danach sollten die in Afrika stationierten spanischen Soldaten durch die Marine ans Festland gebracht werden. Da die  Soldaten der Marine  größtenteils zur  Republik Spanien standen, verzögerte sich der Transport der Truppen. Kaum bekannt ist, dass sich viele Matrosen weigerten die Befehle der Offiziere auszuführen und meuterten. Franco flog am 19. Juli mit einem in England gecharterten  Flugzeug ans Festland und schloss sich sofort dem Führungszirkel der Putschisten an. Die Soldaten aus Spanisch Marokko konnten nur durch die Hilfe Hitlers das Festland erreichen. Er schickte Transportflugzeuge um sie nach Spanien zu bringen.

Ihr  ist ein spannendes und bewegendes Buch über die Fluchtrouten über das Mittelmeer gelungen. Inzwischen ist „Havarie“ verfilmt worden und kommt demnächst in die Kinos.

„Erschlagt die Armen“ von Shumona Sinha

Das Buch „Erschlagt die Armen“ von Shumona Sinha hat bei seinem Erscheinen 2011 in Frankreich für einen Skandal  gesorgt. Die in Indien geborene Autorin berichtet in einem Monolog was die Übersetzerin in einer Asylbehörde dazu gebracht hat in der Metro einen Flüchtling zu erschlagen, der sie kurz davor bedrängt hat. Weil Shumona Sinha ebenfalls als Übersetzerin in so einem Amt arbeitet, wurde ihr unterstellt, dass sie für die Arbeit nicht mehr tragbar ist und entlassen.

Es war für mich  bedrückend zu lesen wie die namenlose Frau vom Engagement für Flüchtlinge immer mehr von ihnen abwandte. Nach der Tat versucht sie dem Polizisten, der sie verhört, zu vermitteln warum sie sich so entwickelt hat. „In diesem verwirrten Zustand  wollte ich verstehen wie diese Männer im Land ihres Exils überleben. Wie sie es beherrschten. Wie sie von ihm beherrscht wurden. Ich wollte mehr wissen, als mir zustand. Ich drängte mich auf, ich schenkte Gehör, ich war ganz Ohr.“ (S.43) Sie beobachtet die Männer, deren Antworten sie eigentlich nur übersetzen soll und nimmt den Einzelnen nicht mehr wahr. „Sie waren so viele und sich untereinander so ähnlich, dass ich den Eindruck hatte immer demselben Mann zu begegnen. Ihre Stimmen und Gesten halfen mir nicht, sie zu unterscheiden. Im Gegenteil. Ihre Gesichter und Körper verdichteten sich zu düsteren Wolkenbergen, in denen das bevorstehende Unwetter grollte.“ (S.46) Anstatt aber mit jemand darüber zu sprechen versucht sie alles allein auszuhalten. Immer öfter verzweifelt sie über die Geschichten die die Flüchtlinge vor dem Amt erzählen.  „Mein Panzer wird durchlässig, Meine Maske des neutralen Soldaten fällt. Mit Tränen in den Augen höre ich ihren Berichten zu. Tränen der Verzweiflung und der Scham. Bei ihren Lügen werde ich rot.“ (S. 82) Immer wieder geben Flüchtlinge an, dass sie zu Hause politisch verfolgt wurden, waren aber dann nicht in der Lage eine politische Partei zu nennen.  Immer wieder ist geraten worden sich als politisch verfolgt auszugeben, weil dadurch die Chance auf Anerkennung steigt.  

Mit der Lektüre des Buches konnte ich die Verzweiflung der Dolmetscherin verstehen, aber nicht ihre Tat.

Bei dem Buch besteht die große Gefahr, dass es von der falschen Seite Beifall bekommt und Rassisten es als Zeugnis für ihre Ausgrenzungsphantasien nehmen.  Shumona Sinha provoziert ohne eine Perspektive aufzuzeigen. 

Anfang Juni  wurde bekanntgegeben, dass Shumona Sinha, zusammen mit der Übersetzerin ihres Romans, Lena Müller,  den Internationalen Literaturpreis 2016 vom Haus der Kulturen in Berlin verliehen wird. Mit dem Preis wird seit einigen Jahren „herausragende Gegenwartsliteratur in deutscher Erstübersetzung“ ausgezeichnet.

„Ohrfeige“ von Abbas Khider

In dem Buch „Ohrfeige“ erzählt der 1973 in Bagdad geborene Schriftsteller Abbas Khider die Geschichte von Karim Mensey. Es spielt Anfang des Jahrtausends.  Karim flüchtet um endlich ein normales Leben führen zu können. Sein Problem nimmt er aber mit auf die Flucht. Mit der Pubertät sind ihm Brüste gewachsen. Seitdem hat Angst, dass jemand diese Veränderung an seinem Körper bemerkt. Zuerst zieht er sich zurück und hält nur Kontakt zu seiner Schwester und der taubstummen dreizehnjährigen Hayit. Sie führt wie er das Leben einer Ausgestoßenen. Kurz vor ihrem vierzehnten Geburtstag zeiht die Familie fort. Erst später erfährt Karim, dass  Hayit von drei Männern vergewaltigt und dann ermordet wurde. Die Angst vergewaltigt zu werden, sobald seine körperliche Situation bekannt wird nimmt immer mehr zu, besonders als er in das Alter kommt für das Militär gemustert zu werden. „Es existiert eine Bezeichnung, die Soldaten verwenden, wenn die jemanden als unwichtig betrachten: `Al-Arif´, `Helfer des Unteroffiziers´. Diese Handlanger müssen alles für ihre Vorgesetzten tun. Klamotten waschen, kochen, die Taschen tragen und ihnen nachts einen runterholen, wenn es gewünscht wird. Diese Leute sind faktisch die Ehefrauen der Generäle, oft homosexuell oder zu Sexsklaven gemacht.“ (S. 91)

Weil er gehört hat, dass es in Europa die Möglichkeit gibt ihm die Brüste zu amputieren flieht er. Eigentlich wollte er nach Frankreich. Zumindest hatte er seinen Schlepper bis dahin bezahlt. Als er dann aber aus dem Laster springt, landet er im tiefsten Bayern.  Dachau ist seine erste Station, dann kommt er nach Bayreuth. Abbas Khider erzählt nicht nur die Geschichte von Karim, sondern auch von anderen Flüchtlingen, denen er in den Unterkünften begegnet. Dadurch ergibt sich ein differenziertes Bild von Flüchtlingen, die es bis nach Deutschland geschafft haben. Ihr Ziel ist es ein normales Leben in Deutschland zu führen, vielleicht zu studieren um dann Karriere zu machen und Geld zu verdienen.

„Ich räumte damals oft von all den schönen Dingen, die ich tun würde, wenn ich die Aufenthaltserlaubnis bekäme. Ich begann diese Gedanken weiter- und weiterzuspinnen. Ich stellte mir ein neues Leben als freier Mensch vor. Ich würde einen Chirurgen finden, der mir eine flache Brust schenkte, würde endlich enge Kleidung tragen können und erhobenen Hauptes durch die Straßen gehen.“ (S.116) Leider erfüllt sich kein einziger seiner Träume.  Nicht einmal die Krankenkasse ist bereit die Amputation seiner Brüste zu bezahlen. Im Bescheid, den er bekommt heißt es lapidar, dass Brüste etwas Normales sind.

Aus lauter Wut und Frust über die Ignoranz der Behörden will er seine Sachbearbeiterin Frau Schulz auf ihren Bürostuhl fesseln und ohrfeigen. Diesen Racheakt weil er in ihren Augen nur eine Nummer geblieben ist, macht er aber nicht wahr.

Das Buch endet damit, dass sich Karim wieder auf die Flucht begibt. Diesmal aus Deutschland, das Land, das ihn auch nicht akzeptiert hat.

„Gehen, Ging, Gegangen“ von Jenny Erpenbeck

Der Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck hat für mich mir ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ den Roman des Jahres 2015 geschrieben.

Richard hat bis vor kurzem als Professor an der Uni gearbeitet. Jetzt ist er im Ruhestand und weil er seit einigen Jahren Wittwer ist, hat er  Zeit durch die Straßen zu schlendern. Auf dem Oranienplatz entdeckt er zu seiner Überraschung Flüchtlinge die auf dem Platz campieren und ihn besetzt halten. Er ist überrascht weil er früher oft hier mit dem Fahrrad vorbeigefahren ist und nie etwas mitbekommen hat.  Zuhause entwickelt er einen Fragebogen, den er den Flüchtlingen vorlegen will. Als er aber am nächsten Tag zurück kommt ist der Platz leer und die Flüchtlinge fort. Er macht sich auf die Suche und findet sie dann in einer Schule. Mit der Zeit lernt er sie kennen, kann sich aber ihre Namen nicht merken. Aus der Not macht er eine Tugend und gibt allen eigen Namen. Sie heißen für ihn jetzt Tristan, Apoll, oder schwarzer Mond von Wismar. Richard verkörpert die Bildungsbürger in der Gesellschaft, die etwas Gutes tun wollen – und auch tun – aber dabei auch die eigenen Interessen im Kopf haben. Je mehr Richard nachfragt und sich ihre Geschichten erzählen lässt, desto mehr Fragen ergeben sich. Dadurch entwickelt Jenny Erpenbeck eine Vielfalt an Fluchtursachen und Fluchtgeschichten. Immer wieder schiebt sie erklärende Passagen ein, mit der sie das Dilemma und die Absurdität der Flüchtlingspolitik in Deutschland aufzeigt. Richard fängt an ihnen Deutschunterricht zu geben. Als die Flüchtlinge eine Demonstration für eine bessere Lebensbedingungen machen wollen hat niemand mit einem deutschen Pass um die Demonstration anzumelden. Richard meldet sie spontan an und stellt zum ersten Mal fest wie engstirnig und bürokratisch deutsche Behörden sein können.

Nach dem Dublin II – Abkommen müssen Flüchtlinge aber dort Asyl beantragen wo sie Boden der EU betreten haben. . Die Flüchtlinge werden einer nach dem anderen abgeschoben. Trotz aller Solidarität die Richard im Laufe des Romans entwickelt ist er letztendlich machtlos. Gleich zweimal heißt es am Ende des Buchs: „Wohin geht jemand, der nicht weiß, wohin er gehen soll?“

In einem Interview mit der taz hat sie geschildert wie sie für das Buch recheriert hat:

„Ich bin von einer Angestellten in die Zimmer geführt worden und habe gesagt, dass ich ein Buch schreiben möchte und dass ich Leute suche, die bereit sind, mir ihre Geschichte zu erzählen.“  

Jenny Erpenbeck ist es gelungen das aktuelle Thema von Flucht und Fluchtursachen in einen Roman zu packen. Sie hat damit wahrscheinlich mehr erreicht als manches Sachbuch zu dem Thema.  

Die Bücher zeigen in sehr unterschiedlicher Weise, dass das Thema Flucht und Asyl inzwischen (wieder) in der Literatur angekommen ist.

Literatur:

Jenny Erpenbeck „Gehen, ging, gegangen“  Knaus Verlag

Abbas Khider „Ohrfeige“ Hanser Verlag

Merle Kröger „Havarie“ Argument Verlag

Shumona Sinha „Erschlagt die Armen“ Edition Nautilus

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About Janka Kluge

Seit über vierzig Jahren bin ich in der antifaschistischen Bewegung aktiv. Es ist mittlerweile über dreißig Jahre her, dass ich einen ersten Vortrag über neonazistische Strukturen gehalten habe. Im Laufe der Zeit sind viele Vorträge, Reden auf Kundgebungen und Demonstrationen und Artikel zu dem Thema dazu gekommen. Die meisten davon habe ich in Zeitungen der VVN-BdA veröffentlicht. Im Freien Radio für Stuttgart arbeite ich seit über 25 Jahren mit. in der Folge sind an die 2000 Nachrichten- und Kultursendungen entstanden.